Womit beginnt das Abenteuer des Sehens? Das Auge ist ja zunächst ein gefräßiges Organ, das nach Bemächtigung der Dinge strebt im begehrlichen Blick. Die Philosophie durchzieht von Augustinus bis Georges Bataille eine Kritik der Schaulust, die im begehrlichen Blick eine Art moralischen und wissenschaftstheoretischen Sündenfall sieht. In seinen „Bekenntnissen“ hat zum Beispiel Augustinus eine “sündenhafte Versuchung“ durch die „Begierlichkeit der Augen“ eingestanden. Und es gibt den berühmten Bericht Petrarcas über seine Besteigung des südfranzösischen Berges Mont Ventoux im Jahr 1335. Dort berichtet Petrarca, dass er nach dem Erreichen des Gipfels durch die Augustinus-Lektüre von seiner „Schaulust“ geheilt wird und den Blick fortan nach innen richtet.
Was heißt das nun für den Augensinn der Poesie? Was heißt das für die Gedichte des 1972 geborenen Lyrikers Nico Bleutge, der wie kein anderer Autor seiner Generation das „Abenteuer des Sehens“ in seinen Gedichten realisiert? Denn vieles wird in seinen Texten in seiner Phänomenalität ganz genau betrachtet: eine Küstenlinie, eine leichte Wellenbewegung auf sich kräuselndem Wasser, ein sanfter Windstoß, der durch Grashalme fährt. Das „Abenteuer des Sehens“ speist sich bei Nico Bleutge aber nicht von jenem erwähnten besitzergreifenden, abgrenzenden und trennenden Sehen, sondern von einem Zustand „entgrenzter Wahrnehmung“, ein Zustand, in dem die vertrauten Konturen der Dinge sich erst einmal auflösen. Aber erst wenn das Vertraute fremd wird und unsere kognitiven Selbstverständlichkeiten zerfallen, kann die Dichtung sich frei-sprechen von den den ihr auferlegten Geläufigkeiten. Im poetischen Schreibprozess, so sagt es Nico Bleutge selbst in einem Essay über das poetische Sehen, stellt sich jener Zustand entgrenzter und doch hoch bewusster Wahrnehmung“ ein, in dem das flüchtige >Ich< vollends die Kontur verliert und der Wahrnehmende nur noch Sensorium ist“.
In Anlehnung an den großen russischen Romancier Vladmir Nabobov spricht der Autor von „optischen Amalgamierungen“ in seinen Gedichten. Aber dieses Optische ruht nicht mehr auf einer sinnlichen Gewissheit: „Ein >Ich im Sinne einer festen Instanz gibt es gar nicht mehr, kein Subjekt ist hier erhaschbar, sondern nur ein Kollektor von sinnlichen Eindrücken.“
Wie vollzieht sich aber bei Nico Bleutge das „Einsickern der Wahrnehmungen in den Körper“, das er in seinen Gedichten vorführt? Die Suchbewegungen in den Gedichten verbleiben ja stets im Vorfeld sinnlicher Gewissheit. Der suchende Blick „steckt das Feld“ ab, tastet sich behutsam an die Dinge heran, folgt den Konturen von Naturphänomenen oder technischen Gegenständen. Oft sind es Naturstoffe und Pflanzen, die eine eigene Textur bilden und eine Struktur vorgeben: Schilfhalme, Flechten aus Seegras, Fäden aus Tang. Es sind fast immer „wandernde teilchen“, die der Dichter anvisiert, die jedoch nicht als tote Objekte fixiert werden, sondern als Gegenstände, deren Fremdheit nie eingeholt werden kann in einen klar zu definierenden Sinn. Es bleibt in diesen Exerzitien der Wahrnehmung vieles in der Schwebe. Diese poetische Wahrnehmungslehre mag ihre Inspirationen auch aus den literaturhistorischen Studien beziehen, die Nico Bleutge betreibt. Nach seinem Studium der Neueren Deutschen Literatur, Allgemeinen Rhetorik und Philosophie in Tübingen hat er eine bislang unabgeschlossene Dissertation über Robert Musil begonnen. Dort wird er vermutlich auch auf Ernst Mach und dessen Theorie des Phänomenalismus gestoßen sein, die alle Aussagen über Dinge oder Prozesse auf die Registratur der Sinnesdaten bzw. auf die sinnliche Wahrnehmung zurückführt. Im Sommer 2001 habe ich anlässlich eines Literaturwettbewerbs zum erstenmal Gedichte von Nico Bleutge gelesen – und war verblüfft über die Kunstfertigkeit dieses Dichters, der so ganz anders schrieb wie die narzisstischen Ich-Könige seiner Generation. „Peilung“ hieß damals der Gedicht-Zyklus, der dann beim Berliner „Open Mike“-Wettbewerb reüssierte.
Vieles erscheint in diesen Gedichten wie eine pointillistische, auf kleinste Einzelheiten fixierte Landschaftsmalerei. Wer sich indes mit den Gedichten näher beschäftigt, wird fasziniert sein vom unablässigen Erproben und Revidieren und Neu-Justieren mikroskopischer Feineinstellungen auf die Dinge. Sein strenges Bildprogramm hat Nico Bleutge mittlerweile noch weiter verfeinert. Von komplexen Standphotos und Vexierbildern zu Meeresufern und Küsten-Gegenden ist der Dichter mittlerweile zu Gemälde- bzw. Skulpturen-Gedichten gelangt, so z.B. in den großartigen „charakterkopf“-Studien, die den 69 Köpfen des Barockkünstlers Franz-Xaver Messerschmidt (1736-1783) gewidmet sind. Hier ist ein hellwacher, ungeheuer präzise beobachtender Augen-Mensch bei der Arbeit zu besichtigen, mit einem „feinen etwas unbestimmten strich / der eine möglichkeit mit einer andern möglichkeit“ verknüpft. Bislang waren Nico Bleutges Wahrnehmungs-Gedichte nur in Literaturzeitschriften zu lesen. Nach langer Wartezeit wird nun endlich im August 2006 sein erster Gedichtband „klare konturen“ im renommierten C.H. Beck Verlag in München erscheinen – ein Debüt, dem wir mit großen Hoffnungen entgegensehen dürfen.